Es herrscht globale Oligarchie

Bevor sich mein Vater gegen die Schweizer Atombewaffnung stellte und deshalb in den frühen 1960ern Besuch vom militärischen Geheimdienst erhielt, war er ein stolzer und tüchtiger Offizier. Ich erinnere mich an dicke Bände im Bücherregal: „Treue und Ehre“, es hat mir Eindruck gemacht, ich habe es ernstgenommen.

Ich nähme es „zu ernst“, sagten mir vor Jahren journalistische Chefs, als ich bei der Besetzung einer Kaderstelle aussen vor geblieben war und einer meiner früheren Praktikanten zum Zug kam. Was meine Chefs meinten, verstand ich nicht, und sie konnten es mir auch nicht erklären. 
Denn natürlich nehme ich es ernst, und natürlich gehe ich davon aus, dass es auch Kader ernstnehmen: die journalistische Aufgabe, die demokratische Verantwortung, die politischen Rechte und Pflichten. 

Ernstnehmen ist lächerlich

Mittlerweile glaube ich zu verstehen, was meine Chefs damals meinten: Treue und Ehre sind etwas für Schulbücher und Sonntagsreden, aber nicht für den Berufsalltag und die Wirklichkeit. Wer ein republikanisches Bewusstsein hat, wie ich es etwa bei Gottfried Keller lese; wer dieses Republikanische mit sozialem Bewusstsein zu verbinden versucht, wie ich es etwa bei Albert Bitzius finde, und wer womöglich noch Sachzwängsten und Schizophrennen nachgeht und Machtung ruft, wie es Friedrich Dürrenmatt getan hat, der taugt nicht für Kaderstellen.

Mir ist mithin in den letzten Jahren eine Welt zusammengebrochen, auf der ich einen Grossteil meines Tun und Lassens aufgebaut hatte: der Rechtsstaat und die Demokratie, die Souveränität der Schweiz und die Kraft der UNO, das ernsthafte Bemühen der Politik, aus der Welt einen besseren Ort zu machen. 

Das globale Regime der Oligarchie

Habe ich verdrängt, was der herbeigeeilte Alfred A. Häsler uns Mitte 1989 im Säli der Tenne Interlaken sagte, als wir uns gegen die unsäglichen Schweizer Diamant-Feiern zum Kriegsausbruch von 1989 wehrten: „In der Schweiz bestimmen rund 200 Familien, wo es langgeht.“

Mittlerweile gehe ich davon aus, dass unser politisches System sich seit dem späten 19. Jahrhundert zu einer globalen Oligarchie entwickelt hat – nach Lage der Dinge etwas Neues in der Menschheitsgeschichte.

Letztlich gilt in diesem politischen System das Recht des Stärkeren. Zwar können wir das unseren Kindern oder den Massenmedien so wenig sagen, wie ihnen die Werte eines Trump oder Putin ernsthaft zu vermitteln sind. Aber vorab dank PR- und Populismusprofis schaffen wir es, den Menschen nach den orwellschen Prinzipien von Doppeldenk mehr oder weniger subtil etwas vorzumachen.

Mit Verschwörungstheorien hat das nichts zu tun, die Vorstellung strategischer, globaler Verschwörungstheorien ist lächerlich kindlich: Die Kräfte und Interessen sind weltweit derart vielgestaltig und widerstrebend, dass Verschwörungen zwar als taktische Phänomene alltäglich sind – das Vorführen der Muslimbrüder durch die Armee in Ägypten etwa, das systematische Dopen in Sotschi oder die Silberspekulationen der Gebrüder Hunt vor gut 40 Jahren.

Keine Verschwörungen, sondern Kräftemessen

Aber insgesamt sind die Kräfte nicht nur der Oligarchen schlicht zu divergierend und zu stark, als dass Verschwörungen à la Weltherrschaft möglich wären: hier beispielsweise China, das seit rund 4500 Jahren Kaiserreiche verschiedener Couleur kennt, dort die USA, die vor 250 Jahren eine neuartige demokratische Staatsform installierten; hier Russland, das Christentum, organisierte Kriminalität und Diktatur mit erschreckender Selbstverständlichkeit zu einer Staatsform entwickelt hat, dort arabische Staaten, die Staatlichkeit als Kleptokratie praktizieren und mit Ölrenten wahlweise auf Sand gebaute Wohlfahrtsstaaten unterhalten oder mörderische und selbstmörderische Überbietungskämpfe samt bizarren religiösen Auseinandersetzungen austragen.

Hinter den Links, die ich diesen Zeilen unterlegt habe, liegen Bücher, die ich in letzter Zeit atemlos gelesen habe und die mir den Boden unter meinem sozialromantischen staatsbürgerlichen Selbstverständnis weggezogen haben: Gilles Kepel, der eindrücklich die historischen und politischen Kraftfelder und Bruchlinien im Nahen Osten darlegt; Ilija Trojanow, der mit Blick auf die USA und Russland die haarsträubenden Abhängigkeiten und Verbindungen zwischen organisierter Kriminalität, Geheimdiensten und Eliten nachzeichnet; Jia Tolentino, die den zynischen Zeitgeist der USA im 21. Jahrhundert beschreibt; Gunnar Heinsohn, der das globale Geschehen politisch unterlegt, und Nassim Taleb, der es systemisch tut.

Politisch nur Interessen, keine Freunde

Wenn der Stand meines momentanen Irrtums auf einen Punkt gebracht müsste, könnte es derjenige sein von Charles de Gaulle, wonach es keine Freundschaften gibt, sondern nur Interessen.
Das ist eine politische Aussage, keine gesellschaftliche: Natürlich gibt es Freundschaften unter den Menschen, natürlich können sich auch Politikerinnen mögen, selbst wenn sie unterschiedlichste politische Standpunkte haben. Aber im Politischen, also der Verteilung von Macht, Organisation und Ausrichtung gesellschaftlicher Kräfte, kann es sinngemäss ebensowenig Freundschaften geben wie Organisationen miteinander sprechen können – reden miteinander können nur Menschen, und ich spreche hier nicht von algorithmischer Kommunikation.

Organisationen vertreten wie Algorithmen sozusagen Interessen: Wenn-Dann-Beziehungen ohne emotionale Komponente, klassische positivistische Konstrukte, die unter anderem moderne Vorstellungen vom Recht, von der Wahrheit oder von Wissenschaftlichkeit prägen. 
Weil wir aber einerseits Menschen sind, deren Emotionen alles durchdringen und vieles bestimmen, ohne dass wir es wahrnehmen, und weil es andererseits mächtige und ohnmächtige Menschen gibt, die allesamt ihre Neigungen und Abneigungen und Interessen pflegen, ist das Auseinanderhalten der unterschiedlichen Kategorien schwer: sinngemäss ähnlich schwer wie bei all den Worten, die von Liebe handeln – und oft genug Lust meinen.

Interessen kennen keine Moral

Überdies wird uns das Auseinanderhalten schwergemacht: Das ist die ebenso verlogene wie tragende Geschäftsgrundlage des weiten Feldes von Werbung und PR. Denn wie bei der Liebe, die natürlich auch mit Lust zu tun hat (ein krampfhaft ausgeblendetes Dilemma des Identitätspolitischen), so hat das Politische und Kommerzielle trotz seiner Interessengebundenheit auch mit Emotionen zu tun: Wir haben das Gefühl, dieses sei richtig und erstrebenswert und jenes falsch und nichtsnutzig, und meist ist dieses Gefühl über viele Jahre gewachsen, in denen wir in einem bestimmten Kulturkreis standen – Erziehung halt und Tradition und kulturelles Umfeld und Erbe. 

Praktisch gibt es kein Anliegen, für das niemand zu töten oder zu sterben bereit wäre. Der notwendige Druck dafür steht bereit, unmittelbar aufgesetzt meist von Heilsversprechern, mittelbar aber häufig von Oligarchen – wir sind alle käuflich, die Frage ist nur der Preis, und er ist bei Bedarf tödlich.
Darauf hinzuweisen und es zu beklagen, ist so ehrenwert wie billig: Interessen haben ein Ziel, und Moral kommt darin höchstens als Treibstoff vor.

Was die gezielte Vermengung von Interessen, Emotionen und Moral im Politischen angeht, hat wohl Walter Lippmann mit seinem Buch Die öffentliche Meinung vor rund 100 Jahren den Standard gesetzt – womit wir bei der Oligarchie wären: Weltweit gibt es rund 3000 Menschen mit einem US-Dollarvermögen in Milliardenhöhe, und natürlich beeinflussen die Entscheidungen dieser Milliardäre die Entwicklung auf unserem Planeten entscheidend. 

Kleine Kapitalisten, grosse Oligarchen

Das entsprechende Potenzial lässt einen so klein werden, wie mann ist. Zwar gelten auf den grundlegenden Ebenen des Zusammenlebens von der Gemeinde über die Region bis zur Nation überall etwa dieselben wirtschaftlichen und politischen Gesetzmässigkeiten: mehr oder weniger gemeinschaftlich, mehr oder weniger deutlich dirigiert von denen, die den Boden und das Kapital kontrollieren. 

Der Bernburger Alec von Graffenried und der Russe Dmitri Rybolowlew, die Adelbodner Schwandherren und die Rote Aristokratie Chinas sind also qualitativ in ihrer Wirkungsmacht zwar ähnlich, quantitativ jedoch trennen sie Welten im wahrsten Sinne des Wortes.
Das versteht sich eigentlich von selbst, wird aber nicht entsprechend dargestellt: So blindwütig und dumm, wie die Linke grundsätzlich auf das Kapitalistische einschlägt und die Revolution fordert, so blindwütig und böse schlägt die Rechte zurück.

Zum Glück der Oligarchen und Geschäftemacher und zum Leidwesen des gebeutelten Planeten und der geschundenen Kreatur funktionieren wir vor den Märkten jedoch alle gleich – ob es sich bei den angebotenen Waren nun um Meinungen, um Waffen und Drogen oder um Fleisch und Fisch handelt. 

Zerstören ist einfacher als aufbauen

Die Oligarchen operieren dabei in ähnlicher Weise, wie es die Adelbodner Schwandherren oder die Bernburger tun: die Gutwilligeren sozialer, die Böswilligeren egoistischer. Doch das Böswillige tut natürlich mehr weh, und überdies ist es einfacher, etwas kaputtzumachen als aufzubauen. 
Das führt dazu, dass die globale Oligarchie einen insgesamt zerstörerischen Charakter hat.
Auch das zu beklagen und zu bekämpfen, ist sinnlos, denn die Mechanik ist systemisch und mithin niemandem persönlich anzulasten. Darauf hinzuweisen jedoch ist unverzichtbar – phänomenologisch fällt und geht das Zerstörerische zudem zunehmend ins Auge.

Das Systemische, mithin Unvermeidliche des Zerstörerischen, welches der globalen Oligarchie innewohnt, ist im Übrigen eine Hauptursache für das ebenfalls systematische Scheitern einerseits von Weltverbesserung, andererseits von menschenfreundlicher Pädagogik:

  • Hier lehren wir unseren Nachwuchs das Gute seit vielen Jahrzehnten in der Schule und zeigen es ihnen wieder und wieder in Filmen. Doch wenn es ernstgilt, sollte das nicht zu ernstgenommen werden – wie bei meiner Kaderstelle. 
  • Dort wiederum liegen von der Überfischung bis zur Unterernährung seit Jahrzehnten die Probleme und inzwischen auch die Lösungen auf dem Tisch. Doch obwohl sich zahllose Organisationen darum kümmern, sind die Fortschritte nicht wirklich bedeutend.

Auch Oligarchen haben Nachkommen

Vor dem Hintergrund einer globalen Oligarchie, die ihren Interessen folgen muss und Staaten, Branchen und Meinungen kontrolliert, ist das ständige Scheitern des Vernünftigen folgerichtig, ja zwingend.
Allerdings ist dieses Zerstörerische mittlerweile derart problematisch, dass starke Kräfte Gegensteuer geben: Versicherungen zum Beispiel, aber auch Regierungen.

Neben dem Sichern der natürlichen Lebensgrundlagen geht es dabei auch um wirtschafts- und gesellschaftspolitische Grundlagen: Namentlich hat sich erwiesen, wie wichtig etwa ein Mittelstand ist, aber auch im Alltag rechtsstaatliche und korruptionsfreie Räume wie die Schweiz – sie hat sich auch und gerade deshalb zu einem unerträglich peinlichen Hauptsitz und Rückzugsgebiet der Oligarchie entwickelt.

Dass die Oligarchie sich schwer tut mit Gemeinsinn, ist völlig plausibel: dem allgemeinen Interesse zu folgen, bedeutete, das Partikularinteresse zurückzustellen – ein betriebswirtschaftlicher und ideologischer Unsinn.
Indes müssen auch die Oligarchen weiterdenken und Konzessionen machen, wenn sie ihren Nachkommen etwas überlassen wollen.

Das ist politisch meine einzige Hoffnung, zu der eine wirtschaftliche kommt: Wir haben das Wissen, das Können und die Produktivität, um ohne Zerstörung der Lebensgrundlagen allen ein menschenwürdiges Auskommen zu ermöglichen – und den Reichen nicht einmal viel wegzunehmen.

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